18
Der Baum der Verlassenen
»Also, dann sehe ich dich später im Geschäft?«, fragt Ham und drückt meinen trägen Körper, der voll bekleidet auf dem Sofa lümmelt. »Hörst du mir überhaupt zu, Rosie?«
»Natürlich.« Ich versuche, mich aufzusetzen, doch meine Stirn fühlt sich an, als würde ein Topfdeckel dagegengeschlagen. »Ich hab nur gerade über mein heutiges Treffen mit Milton nachgedacht«, lüge ich.
Mickey runzelt die Stirn, als würde er mir nicht glauben.
»Also gut, außerdem vertrage ich keinen Alkohol. Und Marcie hat mich mit billigem Wein abgefüllt.«
»Rosie«, sagt er. »Lass mich dir etwas sagen, ohne dass du ausflippst.«
Wieder ein Schlag mit dem Deckel.
Ich reibe mir die Stirn und sehe ihn an. »Etwas über Helen«, stelle ich fest.
»Hör einfach zu«, beharrt er. »Im Leben passiert es, dass Menschen, an denen dir sehr viel liegt, dich enttäuschen. Und irgendwann vergibt man ihnen dann wieder.« Er streckt die Hand aus, um mich zu berühren, scheint es sich dann aber anders zu überlegen. »Du vergibst deinem Chef, und du vergibst deinen Freunden. Warum nicht auch deiner Familie?«
»Willst du damit sagen, ich sollte Teddy vergeben?«
Mickey lacht. »Du weißt genau, dass ich nicht von Teddy rede, Rosie.«
Natürlich weiß ich das. Wieder lasse ich mich in die Sofakissen sinken. Das geht in die gleiche Richtung wie Marcies »Ruf deine Mutter an«. Mickey hat mir den Spruch aufgetischt, seit er mein lädiertes Gerippe am Samstagabend nach Hause transportiert hat. Ruf deine Mutter an. Ruf deine Mutter an. Ruf deine Mutter an. Die Tatsache, dass sie gar nicht meine Mutter ist, treibt an ihm vorbei wie eine Mücke auf der Oberfläche eines Teichs. Mickey sieht heute Morgen großartig aus in seiner sportlichen Tweedjacke, aber anscheinend kann er den Seelenklempner in sich nicht abstellen. Das Gute daran ist vermutlich, dass ich endlich ein Problem habe, das sogar Oprah Winfreys würdig ist: nicht zu wissen, wer meine Eltern sind.
Ich zupfe an Mickeys Schlips und ziehe sein Gesicht zu mir herunter. »Dein Po ist einfach zum Anbeißen«, sage ich. Ich beende die Therapiesitzung, indem ich ihn auf seinen schönen Mund küsse.
»Ja, und wenn ich dir wehtun würde, würdest du mir wahrscheinlich vergeben, schon wegen meines Knackarsches. Warum also nicht Helen?«
»In erster Linie deshalb, weil ihr Hintern mit deinem nicht mithalten kann«, scherze ich, doch Ham lacht nicht. Unter großen Anstrengungen setze ich mich wieder auf. Ein schmaler Sonnenstrahl auf dem Teppich macht mich fertig, indem er etwas hinter meinen Augen zum Explodieren bringt. »Und außerdem weiß ich gar nicht, was genau es ist, das ich ihr vergeben sollte! Ich habe keine Ahnung, ob sie mich von den besten Eltern der Welt ferngehalten hat, oder ob sie mich davor bewahrt hat, mit dem Kleiderbügel verprügelt zu werden.«
»Vielleicht hattest du ja bereits die besten Eltern der Welt.«
Ein lauter Seufzer entfährt mir. »Ich dachte, du wärest einer von diesen Typen, die nicht reden.«
»Was?« Ham blickt verwirrt drein.
Wieder zupfe ich an seinem Schlips und küsse ihn, dieses Mal aber länger. »Du bist wirklich ein Heiliger«, sage ich zu ihm.
Er lächelt, sieht aber ein bisschen enttäuscht aus. Ich glaube nicht, dass er nach Heiligkeit strebt. Ich glaube, dass er etwas anderes hören möchte, irgendein Liebesgeständnis – doch da wartet er unter dem falschen Baum darauf, dass etwas für ihn herunterfällt. Unter dem zerbrochenen Baum. Dem verwüsteten Baum. Dem Baum der Verlassenen. Es werden Monate vergehen, bevor dieser Baum wieder austreibt. Außerdem sollte er sich nicht benehmen, als wäre er mein Therapeut, wenn er will, dass ich mich in ihn verliebe. Und er sollte mich endlich mal in seine Wohnung in Manhattan einladen.
Nicht, dass ich so dringend dort hin will; aber Marcie hat mich auf etwas gebracht: Er hat mich nie darum gebeten, zu kommen.
»Ich hab frischen Kaffee gemacht«, sagt Mickey, bevor er geht.
Nachdem er fort ist, stehe ich auf und schenke mir eine Tasse davon ein.
Plötzlich bin ich froh darüber, zum SaveWay statt ins Büro zu fahren. Die Vorstellung, erneut von Marcie Vorträge gehalten zu bekommen, ist unerträglich.
Dann ist da noch Sean, oder »Zambie«, und es wird mir schwerfallen, heute in ihm eine Autoritätsperson zu sehen. Der Himmel weiß, was er über mich denkt. Wie, bitte schön, sollen wir zusammenarbeiten, nachdem er zugesehen hat, wie ich in einem rosa Schlafanzug aus seinem Haus geschleppt wurde? Da ist es doch besser, nur Mickey zu sehen und vielleicht einen weiteren Kuss in seinem Büro zu ergattern.
Auf dem Parkplatz vor dem SaveWay scheint die Sonne halbherzig, bringt aber immerhin das Chrom der Autos zum Blitzen, sodass mir das Licht in die Augen sticht. Ich ziehe den Mantel enger um mich und trippele auf meinen mäßig hohen Absätzen zum Eingang. Komfortschuhe nennen sich die Dinger, von außen sehen sie angeblich wie »Karriereschuhe« aus, innen sind sie so bequem wie Omatreter. Früher hätte ich nicht tot in diesen Schuhen gesichtet werden wollen, die natürlich ein Geschenk von Helen sind. Aber heute scheinen sie mir genau richtig zu sein, die perfekte Mischung aus Schande und Komfort.
Sobald ich drinnen bin, suche ich in der Lebensmittelabteilung nach Milton, wohin er heute eingeteilt ist. Er hat mich bereits mehrmals gebeten, ihn vom Auffülldienst zu befreien. Sogar aufs Wageneinsammeln ist er dieser Tage nicht scharf. Stattdessen will er seinen Job als Tütenpacker an der Kasse zurück, und ich rechne fest damit, dass er mich heute wieder darauf ansprechen wird.
Er ist am glücklichsten, wenn er Kontakt zu den Kunden hat. Er hat gelernt, die Kunden an der Expresskasse bei der Zahl der Artikel schummeln zu lassen, ohne etwas zu sagen. Er hat gelernt, den Kunden in die Augen zu sehen, wenn er sie fragt: »Plastik oder Papier?« Er fragt auch die Kinder in den Wagen nicht mehr, ob er von ihren Süßigkeiten probieren darf, aber beim Einpacken bedarf es dennoch einer Aufsicht, weshalb er meistens für andere Aufgaben eingeteilt wird.
Ich treffe ihn in Gang sechs an, wo er mit einem gelben Staubwedel ein Regal mit Hundekuchen entstaubt. »Kräcker, Kräcker, Kräcker, finden Hunde lecker!«, trällert er, ein Werbejingle für Hundefutter, den er im Fernsehen gesehen hat. Sein Haar fällt ihm auf eine Weise in die Stirn, wie es das sonst nur bei coolen jungen Männern tut. Er ist unangemessen hübsch. Er könnte als James Bond gecastet werden, wenn 007 Babys genauso gern mögen würde wie Blondinen.
»Hallo, Milton«, sage ich, und er dreht sich um und vergilt es mir mit seinem warmherzigsten Lächeln.
»Miss Plow!«, sagt er. »Ein wunderschönes Thanksgiving!«
»Bald«, erkläre ich ihm. »In ein paar Wochen.«
»Nein, jetzt.« Er lässt den Staubwedel sinken, wirbelt herum und deutet auf einen gewaltigen Stapel aus Kürbiskonserven am Ende des Ganges. Von der Spitze lächelt eine Pappfigur herab. »Sehen Sie?«
»Vielleicht hast du recht«, sage ich zu ihm, viel zu erschöpft, um ihm erklären zu können, dass diese saisonalen Angebote immer Wochen vor dem eigentlichen Ereignis in den Läden stehen. Er verschlingt mich mit den Augen wie ein Liebhaber.
»Noch kein Schnee«, sagt er.
Wieder hat er recht.
Ich habe das Auto in einem Wirbel aus trockenen Blättern vor dem SaveWay geparkt. Long Island wird voraussichtlich zu Thanksgiving grau und staubig sein, statt weiß und glitzernd. Teddys und Ingas erste gemeinsame Feiertage werden vermutlich lausig sein. Sie werden sich an braunes Gras, kahle Bäume und schmutzige Autos erinnern, und keine der Unvollkommenheiten dieser Welt wird von strahlendem Weiß kaschiert sein. Immerhin etwas, denke ich, und es muntert mich ein bisschen auf. Milton kitzelt sich selbst mit dem Staubwedel unter dem Kinn, doch er blickt mich aufmerksam an.
»Sind Sie traurig?«, fragt er.
»Nein. Nur müde.«
»Traurig, weil wir noch keinen Schnee haben?« Er blickt mich unverwandt aus braunen Augen an.
»Wie gefällt es dir, die Regale zu entstauben?«, frage ich.
»Ich will lieber Tüten packen.«
»Ja«, sage ich. »Warum machst du mit deiner erstklassigen Arbeit hier nicht noch ein paar Minuten weiter, während ich mit Mr Hamilton rede?«
»Wie viele Minuten?«
»Fünf.«
»Fünf?«
»Genau.«
Betrübt wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Na gut.«
Ich lasse ihn an Ort und Stelle zurück und strebe den Milchprodukten zu, wo das Büro des Geschäftsführers liegt. Ich werde Mickey fragen, ob ich Milton eine Zeit lang beim Einpacken beaufsichtigen kann, und vielleicht bekomme ich sogar meinen Kuss. Dann werde ich wieder nach Hause fahren und schlafen, bis man mich findet. Lange Neonröhren leuchten über dem Käse und bringen den Kopfschmerz hinter meinen Augen zurück. Ich klopfe einmal an die Bürotür, bevor ich eintrete.
»Herein«, sagt Mickey.
Er sagt es mit seiner freundlichen Stimme, doch sie hat auch etwas Geschäftliches. Meine Augen müssen sich erst an die schwache Beleuchtung im Raum gewöhnen. Dann rieche ich das Parfüm. Ein leichter, kesser Duft, den ich aus den Gratisproben in meinen Cosmopolitans kenne. Ich starre ins Dämmerlicht, um zu erkennen, wer es trägt, und sehe Mickey, der am Tisch einer Frau mit blondem Haar gegenübersteht. Sie ist ganz eindeutig ein echtes Cosmo-Girl. Sie scheint violette Augen zu haben, doch das könnten auch Kontaktlinsen sein. Sie ist ausgesprochen hübsch, doch das könnte auch an ihrem perfekt aufgetragenen Make-up liegen. Sie trägt einen weinroten Wollmantel, sehr edel. Die Kontur ihres Körpers ist darunter nicht zu erkennen, aber auf jeden Fall ist sie gertenschlank.
»Rosie«, sagt Mickey. »Das ist Jane.«
Jane lächelt freundlich, sie scheint ganz nett zu sein. »Hi«, sagt sie.
Ich strecke die Hand zu einem Händeschütteln à la Miss Plow aus und frage mich, wie sich wohl mein verkatertes, bleiches Gesicht im Kunstlicht neben ihrem rosigen, glatten Teint macht.
»Also«, sagt Jane und tätschelt Mickeys Hand. »Sei lieb, Michael.« Bevor sie geht, wendet sie sich noch einmal an mich. »Es hat mich gefreut, Sie zu treffen«, sagt sie. »Ich habe viel von Ihnen gehört.« Sie lächelt kurz, aber anerkennend. »Nur Gutes!«, fügt sie hinzu und ist dann blitzschnell verschwunden.
An der Stelle, wo sie unter dem Lichtkegel gestanden hat, bleibt eine weinrote Aura zurück.
»Michael?«, sage ich.
»Setz dich«, sagt Mickey und deutet auf einen Stuhl.
»Ich kann auch später wiederkommen.« Ich knalle Miltons Akte auf den Tisch.
»Dazu besteht kein Anlass. Jane ist nur vorbeigekommen, um Hallo zu sagen. Ist nicht das erste Mal.«
»Jane?«
»Sie ist meine Exfrau. Wir sind Freunde. Ich weiß, das klingt in deinen Ohren wie ein Widerspruch.«
Verstohlen sehe ich in sein Gesicht. Unbewegt wie ein Teich im August. »Kommt Jane oft vorbei? Es überrascht mich, dass du sie nie erwähnt hast, Michael.«
»Du warst noch nicht hier, wenn sie da war. Und es ist keine große Sache, wenn sie es tut. Was sollte ich also erzählen?«
»Nichts. Gar nichts.«
»Vielleicht habe ich es auch erwähnt, aber du hast es einfach nicht gehört. In letzter Zeit hörst du mir sowieso nicht zu. Du läufst einfach nur mit deiner kleinen Wolke aus Selbstmitleid über dir durch die Gegend.«
Die Schärfe in seiner Stimme trifft mich vollkommen unvorbereitet. Ich habe noch nie erlebt, dass Mickey sich über mich ärgert.
»Vielleicht siehst du sie ja öfter in deiner Wohnung in der Stadt«, höre ich mich sagen.
»Was?« Mickey sieht überrumpelt aus.
»Lädst du mich deshalb nie zu dir ein?«
»Du weißt nicht, was du redest, Roseanna.«
»Egal«, sage ich. »Hier ist Miltons Akte.«
»Ich will Miltons Akte nicht …« Die Tür knarrt und geht auf. Milton stürmt herein.
»Mr Hamilton!«, ruft er. »Mr Hamilton, es sind schon sieben Minuten! Ist Miss Plow hier?« Schnaufend sieht er sich um.
»Milton«, sagt Mickey streng. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst anklopfen?«
Mickeys Tonfall lässt Milton erstarren. Wie versteinert steht er in seinem grünen Kittel da. Sein Blick wandert von links nach rechts, zuerst zu Mickey, dann zu mir.
»Miss Plow! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Seine Wangen röten sich vor Besorgnis.
»Miss Plow! Sie sagten fünf Minuten!« Milton mustert mich jetzt sehr besorgt. »Was ist los? Ist dieser böse Mann mit dem Stuhl zurückgekommen?« Aufgewühlt ringt er mit den Händen. »Der Mann aus dem Fahrstuhl?«
Mickey sieht mich an. »Welcher Mann aus dem Fahrstuhl?«
»Nicht Ihr Fahrstuhl«, sagt Milton. »Miss Plows Fahrstuhl.«
»Welcher Fahrstuhl?«, setzt Mickey erneut an.
»Er meint Teddy!«, fauche ich. »Er hat meinen Mann bei mir im Fahrstuhl gesehen, okay?«
»Miss Plow!«, keucht Milton.
Jetzt ist es an Mickey, zu schmollen. Mit verschränkten Armen starrt er zu Boden.
»Das ist schon lange her«, sage ich ihm, genervt von seinem Verhalten.
Milton kommt vorsichtig zu mir herüber. »Ach, Miss Plow. Sie sind sehr, sehr traurig. Soll ich Ihnen einen Toast machen?«
»Und du findest nicht, dass du mir das hättest erzählen sollen?«, schäumt Mickey.
»Er hat einen Stuhl gestohlen!«
Milton ist jetzt außer sich. Er reibt sich die Hände und ruft mit lauter, verängstigter Stimme: »Wenn Sie beide nicht miteinander klarkommen, dann müssen Sie eine Auszeit nehmen!«
»Na gut«, sage ich und nehme Miltons Akte wieder an mich. »Ich nehme meine Auszeit.«
»Nimm dir alle Zeit, die du brauchst«, ruft Mickey mir nach, als ich gehe. Ich stürme aus seinem Büro, als gäbe es einen Ort, wo ich hinkönnte. Aber wo, frage ich mich auf dem Parkplatz. Und dann begreife ich, dass es nur einen Ort gibt, an den ich gehen kann.